Odsun – die Vertreibung der Deutschsprachigen
Historikerkommission
Die österreichische Tageszeitung „Der Standard“ vom Donnerstag dem 10.
September 2009 brachte folgende Meldung: „Historikerkommission soll
Bene¹-Dekrete untersuchen.
Wien – Österreich und Tschechien haben am Mittwoch eine
Historikerkommission auf den Weg gebracht, die auch die umstrittenen
Punkte der gemeinsamen Geschichte aufarbeiten soll. Darunter sind die
„Bene¹–Dekrete“, die nach 1945 die Vertreibung der deutschen Minderheit
aus der Tschechoslowakei rechtfertigten.“
Es ist fraglich, ob die tschechische Seite tatsächlich an einer
objektiven Darstellung der Geschichte interessiert sein kann, weil hier
doch einige für sie nicht angenehme Wahrheiten zu Tage treten können.
Wesentlich dabei wird wohl sein, von welchem Zeitpunkt an die
Geschichte behandelt wird. Der tschechische Standpunkt zur Vertreibung
der Sudetendeutschen lautet etwa:
„Bei den Wahlen des Jahres 1937, den letzten vor dem Einmarsch der
deutschen Truppen in die Tschechoslowakei, hätten 85 Prozent der
deutschen Bevölkerung die nationalsozialistische Sudetendeutsche Partei
des Konrad Henlein gewählt. Damit und durch ihr Verhalten während der
Zeit der deutschen Besetzung der Tschechoslowakei hätten sie sich mit
den Zielen des Nationalsozialismus und dessen Rassenideologie
identifiziert. Sie hätten damit eine Kollektivschuld auf sich geladen,
und die Abschiebung nach Deutschland sei nur die gerechte Strafe zur
Tilgung dieser Schuld. Zudem sei es das Ziel der Siegermächte gewesen,
Deutschland durch Verkleinerung des deutschen Siedlungsraumes so zu
schwächen, dass es nie wieder eine Gefahr für andere Staaten bilden
könne.“
*
(Diskussionsveranstaltung im Rathaus von Berlin
Charlottenburg.)
Diese Einschränkung auf die letzten sieben Jahre vor dem Kriegsende
läßt die historische Entwicklung des Problems außer acht.
Die
Habsburger, vor allem Kaiser Franz Josef, standen dem im
19. Jahrhundert aufkommenden Nationalismus hilflos gegenüber.
Nachdem die österreichische Armee unter Fürst Windischgrätz die
Revolution 1848 zunächst in Prag und dann die Wien gewaltsam
niedergeschlagen hatte, Feldmarschall Radetzky in Italien gesiegt und
die revolutionären Ungarn von den verbündeten Russen geschlagen worden
waren, hatte der Wiener Hof keine Veranlassung, den demokratischen und
nationalen Bestrebungen der Völker der Monarchie Rechnung zu tragen.
Die Niederlage gegen Preußen 1867 brachten den Ungarn ein hohes Maß an
Selbständigkeit und leitete in Österreich den Weg zur
konstitutionellen Monarchie ein.
Das Problem der slawischen Völker, insbesondere der Tschechen blieb
aber ungelöst. Mehr noch, der Ausgleich mit Ungarn erschwerte die
Lösung, weil sich auf ungarischem Gebiet starke slawische Minderheiten
befanden.
Das ungelöste Problem der slawischen Minderheiten löste neben anderen
Gründen den Ersten Weltkrieg aus.
Entwicklung zwischen den Kriegen
Schon bei der Gründung der Staates der Tschechen und Slowaken im Jahre
1918 wurden die Weichen für diese Ereignisse gestellt. Ab dem Jahre
1917 waren die tschechischen Regimenter desertiert, tschechischen
Exilpolitikern war es gelungen, zu erreichen, dass die Tschechoslowakei
als kriegführende Macht auf der Seite der Entente anerkannt wurde. Dem
entsprechend stark war ihre Position bei den Friedensverhandlungen von
St. Germain. Nachdem tschechische Truppen schon vorher die von
Deutschen bewohnten Gebiete des Sudetenlandes und Südmährens besetzt
hatten, trugen die Alliierten dem tschechischen Standpunkt der Einheit
der Länder der böhmischen Krone Rechnung. Österreich musste diese
Gebiete an die Tschechoslowakei abtreten. Über 3,5 Millionen
Deutsche
fanden sich plötzlich als Minderheit auf dem Gebiet des tschechischen
Staates. Mehr noch, mussten Gebiete, die vorher zu Niederösterreich
gehört hatten, wie der Eisenbahnknotenpunkt Lundenburg mit Feldsberg
und Gebiete um Gmünd, an die Tschechoslowakei abgetreten werden.
Die schon genannte Friedensvertrag von St. Germain und der
Friedensvertrag von Trianon mit Ungarn sicherten der ÈSR ein Areal von
140.000 km2 mit 13,6 Mill. Einwohnern. Bei der 1930 durchgeführten
Volkszählung wurden 9,75 Mill. das sind 66,25 % als Tschechen
und
Slowaken, 3,32 Mill. das sind 22,5 % als Deutsche, 720.000,
das
sind 4,9 % als Ungarn, 410.000, das sind 2,9 % als Ruthenen
und 100.000,
das sind 0,7% als Polen ausgewiesen. Während die ÈSR etwa ein Viertel
der Bevölkerung und ein Fünftel der Bodenfläche der alten k.u.k.
Monarchie übernahm, waren auf ihrem Territorium, schwerpunktmäßig in
böhmischen Ländern, über zwei Drittel der industriellen Erzeugnisse
Österreich–Ungarns erarbeitet worden. Sollte dieser Staat mit
einer Ost–West–Ausdehnung von 950 km Luftlinie erhalten bleiben, so
musste mit der Absicherung nach außen eine wirkliche Konsolidierung und
Gewinnung der nationalen Minderheiten Hand in Hand gehen. Doch gerade
in diesem Bereich wurden die Fehler des vorangegangenen
Nationalitätenkampfes wiederholt, die sich im Laufe der folgenden Jahre
nicht wieder gutmachen ließen.
*
(Hoensch, Jörg K.: Geschichte Böhmens — Von der
slavischen Landnahme bis zur Gegenwart, München: Beck 1997.)
Bezeichnend dafür war die Aussage des neu gewählten Präsidenten Masaryk
bei seiner Ankunft in Prag am 21. Dezember 1918: „Wir haben
unseren
Staat geschaffen. Dadurch wird die staatsrechtliche Stellung unserer
Deutschen bestimmt, die ursprünglich als Immigranten und Kolonisten ins
Land kamen.“ Diese Aussage befremdete selbst die Sympathisanten und
ließ eine geschlossene Front gegen die Eingliederung des deutschen
Siedlungsgebietes in die ÈSR entstehen. Erst jetzt in der Abwehrhaltung
gegen die junge tschechoslowakische Republik fanden sich die Deutschen
in Böhmen, Mähren und Schlesien zur politischen Einheit der
Sudetendeutschen zusammen und entwickelten ein deutsches
Volksbewußtsein, das anfangs aber weitaus stärker in Richtung
Österreich tendierte und noch wenig Berührungspunkte mit der Weimarer
Republik aufzuweisen hatte.
*
(Brügel, J.W. Tschechen und Deutsche 1918 – 1938,
München 1967.)
Im Sommer 1919 hatten sowohl deutsche Sozialdemokraten als auch
Vertreter der mittelständischen Parteien Vorschläge ausgearbeitet, um
der Konzeption eines tschechoslowakischen Nationalstaates die
Alternative eines Nationalitätenstaats mit national abgegrenzten
Bezirken und weitgehender Selbstverwaltung entgegenzustellen.
Das erklärte Ziel aller Deutschen, sich nicht mir einem
Minderheitenstatus zufrieden zu geben und alle staatsbürgerlichen
Rechte ohne Diskriminierung für sich zu beanspruchen, lehnten die
tschechischen Parteien kompromisslos ab.
*
(Hoensch, Jörg K.: Geschichte Böhmens — Von der
slavischen Landnahme bis zur Gegenwart, München: Beck 1997.)
Die Minderheitenpolitik der tschechischen Regierung war nicht so
beschaffen, dass sie sich die Liebe ihrer Minderheiten erworben hätte.
Die Durchführungsverordnungen zum Sprachengesetz, der Abbau des über
dem Nationalitätenproporz liegenden Anteil der Sudetendeutschen an der
Beamtenschaft, die Abhaltung von Prüfungen in der
„tschechoslowakischen“ Staatssprache, wodurch 30 % der deutschen
Eisenbahner und Postbediensteten ihre Stellungen verloren, riefen
ebenso helle Empörung bei den Betroffenen hervor wie die offene
Benachteiligung der Deutschen wie der Anwendung der Enteignungsgesetze
und die Verabschiedung einer Vorlage zum Schutze der Republik, die
eindeutig der Disziplinierung der Minderheiten dienen sollte.
Mit der
Zusammenlegung Schlesiens und Mährens zu einer Verwaltungseinheit
verlor zudem der einzige Verwaltungsbezirk mit deutscher
Bevölkerungsmehrheit seine eigenen Behörden. Auch die Kirchenpolitik
erregte die glaubensstarke und kirchentreue sudetendeutsche Bevölkerung
sehr. Bedeutungsvoller war aber jedoch, dass das Auseinanderbrechen des
großösterreichischen Wirtschaftsraumes den deutschen Firmen größere
Schwierigkeiten als den tschechischen Unternehmen bereitete.
*
(Hoensch, Jörg K.: Geschichte Böhmens — Von der
slavischen Landnahme bis zur Gegenwart, München: Beck 1997.)
So warder Boden für die antitschechische Stimmung unter den
deutschsprachigen
Bevölkerung aufbereitet.
Die radikale Partei des Konrad Henlein erhielt als Folge der
Weltwirtschaftskrise mehr und mehr Auftrieb. Wie beim Nürnberger
Kriegsverbrecherprozeß hervorkam,
*
(Heydecker, Joe J, Leeb, Johannes: Der Nürnberger
Prozeß — Bilanz der Tausend Jahre, Kiepenheuer & Witsch, Köln —
Berlin, 1958.)
plante Hitler schon 1933 die
Eroberung der für die Kriegswirtschaft wichtigen Gebiete Österreichs
und der Tschechoslowakei. Nachdem der Putsch in Österreich 1934
gescheitert war, betrieb Deutschland diese Ziele mit allen Mitteln,
zunächst mit den Mitteln der Propaganda und Unterstützung von illegalen
und legalen Parteien, ehe es 1938 zuerst in Österreich und dann,
gestützt auf das Münchner Abkommen, in die von den Sudetendeutschen
bewohnten Gebiete der Tschechoslowakei einmarschierte.
Die einmarschierenden deutschen Truppen wurden von der
deutschsprachigen Bevölkerung mit Begeisterung empfangen, beendete die
Besetzung doch ihren Status eines unbeliebten und unterdrückten
Minderheit. Die überwältigende Mehrheit der Sudetendeutschen hatte sich
früh vom Gedankengut des Nationalsozialismus begeistern und von den
Erfolgen Hitlers im Deutschen Reich blenden lassen. Die missbräuchliche
Verwendung des Rechtes auf nationale Selbstbestimmung hatte die
Sudetendeutschen schließlich zu einem weitgehend willenlosen Instrument
eines antidemokratischen, inhumanen und totalitären Systems werden
lassen. *
(Hoensch, Jörg K.: Geschichte Böhmens — Von der
slavischen Landnahme bis zur Gegenwart, München: Beck 1997.)
Der zweite Weltkrieg
Die Ernüchterung folgte bald. Mit dem deutschen Angriff auf Polen am
1. September 1939 brach der Zweite Weltkrieg aus. Die deutschen
Männer wurden zur Wehrmacht eingezogen, die tschechischen Arbeiter
wurden in den Rüstungsprozeß eingegliedert. Nach den Anfangserfolgen
des deutschen Angriffskrieges kamen die ersten Rückschläge. Die
Niederlage in Stalingrad markierte augenscheinlich die Wende. Aus den
Einzeldarstellungen ist ersichtlich, wie viele Angehörige der Familie
Keck dort ihr Leben lassen mussten.
Die Weichen für das Nachkriegsschicksal der böhmischen Länder wurden
erneut im Ausland gestellt. Edvard Bene¹ verstand es, wiederum zum
geschätzten Partner der Alliierten aufzusteigen und eine allgemein
anerkannte Exilregierung aufzubauen. Nach dem deutschen Angriff war die
Regierung der UdSSR als erste einverstanden, die ÈSR in ihren 1919/1920
festgelegten Grenzen zu respektieren. Als Anfang 1943 an der Ostfront
die große militärische Wende eintrat und die Wahrscheinlichkeit wuchs,
dass die CSR eher vom Osten als vom Westen her befreit werden würde,
näherte sich Bene¹ der UdSSR weiter an.
Da Stalin der von Bene¹
vorgeschlagenen vollständigen, entschädigungslosen Vertreibung der
Sudentendeutschen zugestimmt hatte, schwang sich der Präsident zum
eifrigen Fürsprecher einer polnischen Westverschiebung zugunsten der
UdSSR auf Kosten Deutschlands auf. Die weitgehenden Zugeständnisse, die
Bene¹ bei einem zweiten Moskau–Aufenthalt im März 1945 den Kommunisten
für einen Regierungsbeitritt gemacht hatte, stellten eine
Weichenstellung dar, deren Tragweite weder Bene¹ noch die Vertreter der
demokratischen tschechischen Parteien abzusehen vermochten.
*
(Hoensch, Jörg K.: Geschichte Böhmens — Von der
slavischen Landnahme bis zur Gegenwart, München: Beck 1997.)