„Wilde“ Vertreibungen
Die Phase der „wilden“ Vertreibungen begann Ende April 1945 mit der
Machtübernahme durch die alliierten Armeen beziehungsweise durch
tschechoslowakische Einheiten und endete mit der durch das Potsdamer
Abkommen geregelten Organisation der Aussiedlertransporte. Die
Vertreibungen verliefen nicht nach einem vorgegebenen Muster, sondern
unter sich ihrem spontanen Charakter entsprechend stark voneinander.
In jenen Gebieten, in denen die Rote Armee und sowjetische Stabsstellen
das Kommando übernahmen, erfolgten in den ersten Tagen der Befreiung
Ausschreitungen durch die Rotarmisten, die von Plünderungen bis zu
Vergewaltigungen reichten. Aus den Häusern vertrieben und ihres
gesamten Eigentums beraubt wurden die Sudetendeutschen indes von den
Rotarmisten nicht.
Nach einigen Tagen beziehungsweise Wochen änderte sich das Verhalten
der sowjetischen Truppen gegenüber dem besiegten „Feind“. Ab diesem
Zeitpunkt kann man wahrscheinlich von einem – den besonderen Umständen
entsprechenden – mehr oder weniger korrekten Verhalten seitens der
Roten Armee sprechen.
Bis zum Ende des Jahres 1945 wurde die gesamte Rote Armee aus der
Tschechoslowakischen Republik abgezogen.
Die Träger einer neuen Selbstverwaltung übernahmen laut verschiedenen
Regierungsverordnungen die staatliche Verwaltung im Orts–, Bezirks– und
Landesbereich.
Anfang 1945 entstanden die Revolutionsgarden der Partisanen, die gegen
Kriegsende einen ungeheuerlichen Zuwachs erhielten. Vor allem jüngere
Männer traten ihnen aus unterschiedlichsten Motiven bei: Abenteuerlust
zählte ebenso dazu wie die Hoffnung auf einen guten Arbeitsplatz.
Schließlich wurden den Revolutionsgardisten gut dotierte Stellen im
Staatsdienst in Aussicht gestellt.
Ob nun mit oder ohne Listen: Die Besitzungen der Deutschen wurden
geplündert und bei diesen Plünderungen erfolgten gewaltsame
Ausschreitungen gegen Personen. Alte, seit Generationen bestehende,
Rechnungen im Dorf wurden hier ebenso beglichen wie private
Rachegelüste gestillt. In weiterer Folge konfiszierten die neuen
Machthaber die kompletten Besitzungen der Deutschen. Die Deutschen
konnten manchmal als Knechte auf ihren ehemaligen Höfen weiterleben,
andere suchten bei Freunden Unterschlupf, wieder andere kamen in
Internierungslager.
Wer das Glück hatte, in grenznahen Siedlungen zu wohnen, konnte sich
nachts ins benachbarte Deutschland beziehungsweise nach Österreich
absetzen. Wer sich aber nicht absetzte, dem konnte es passieren, dass
er mit den anderen deutschen Dorfbewohnern auf einem größeren Platz
zusammengetrieben und von den Revolutionsgardisten in Fußmärschen zur
Grenze eskortiert wurde, wobei mehr oder weniger das gesamte Hab und
Gut zurückgelassen werden musste. Wer nicht in solchen Grenzsiedlungen
wohnte, wurde zur Zwangsarbeit eingezogen, musste Kriegstrümmer
beseitigen oder später auch ohne große Entlohnung in der Landwirtschaft
und beim Straßenbau arbeiten.
Weiters galten für die „Deutschen“ mehrere diskriminierende Maßnahmen,
welche die früheren antisemitischen Maßnahmen der Nationalsozialisten
imitierten: So mussten die Deutschen Stoffflecken oder Armbinden mit
einem „N“ tragen, das „N“ verwies auf „Nemec“, den Deutschen; das
Benutzen der Straßenbahn war nicht immer gestattet; den Wohnort durften
sie in manchen Fällen nicht weiter als in einem Umkreis von sieben
Kilometern verlassen.
Insgesamt wurden in der Phase der „wilden“ Vertreibung etwa 700.000 bis
800.000 Sudetendeutsche aus ihren Wohnungen und Häusern vertrieben.
Größtenteils befanden sie sich jedoch noch immer auf dem Territorium
der Tschechoslowakei, sei es als Internierte in Lagern oder als
Zwangsarbeiter auf Baustellen.
Unter diesen Maßnahmen – Internierung, Arbeitspflicht, Verlust
staatsbürgerlicher Rechte – mussten jedoch nicht nur die
Sudetendeutschen leiden, sondern auch jene Tschechen, die man zu Recht
oder zu Unrecht der Kooperation mit den Deutschen verdächtigte.
*
(Beyerl, Beppo: Die Bene¹–Dekrete — Zwischen
tschechischer Identität und deutscher Begehrlichkeit, Promedia Wien
2002.)